Ricardo Tamayo

Die Erinnerung: Das Labyrinth der Identität


In diesem Aufsatz möchte ich mit einige Gedanken zum Verhältnis von Erinnerung/Gedächtnis und Identität untersuchen. Um meine Gedanken zu veranschaulichen, werde ich Beispiele aus meinem persönlichen Leben, aus den Medien und aus dem klassischen Essay Das Labyrinth der Einsamkeit von Octavio Paz heranziehen.[1] Zunächst werde ich das individuelle Gedächtnis und die zeitgenössischen Konzepte über das Gedächtnis behandeln, dann möchte ich auf das kollektive Gedächtnis, auf die kollektive Erinnerung eingehen. Diese Art der Erinnerung ist in meinem persönlichen Fall mit Lateinamerika und Kolumbien verbunden. Abschließend werde ich die Identität und die Widersinnigkeit beleuchten, die wir als Person in Bezug auf die Identität der Gruppe und die individuelle Identität erfahren.[2]


I. Das individuelle Gedächtnis

Normalerweise denken wir bei Gedächtnis an eine individuelle Fähigkeit. Eine der ersten Abhandlungen über das Gedächtnis als individuelle Fähigkeit geht auf Aristoteles zurück, für den ein fundamentaler Unterschied zwischen zwei Arten von Gedächtnis existiert: das Gedächtnis und die Erinnerung. Für Aristoteles ist das Gedächtnis jede Art von nachträglichem Effekt, den die vorhergegangenen Erfahrungen auf das Verhalten des Individuums haben. In diesem Sinn haben nicht nur Menschen, sondern auch Tiere ein Gedächtnis. Auf der anderen Seite ist die Erinnerung ein rekonstruktiver Prozess, in dem ein vergessenes Ereignis, das aber eine Spur hinterlassen hat, wieder ins Bewusstsein kommt. Dieser Perspektive folgend (die auch heute noch sehr angesehen ist), ist das Gedächtnis elementarer und grundsätzlich assoziativ, während die Erinnerung einen zusätzlichen, rekonstruktiven Prozess erfordert. Deswegen dachte Aristoteles, dass die Erinnerung nur den Menschen vorbehalten ist.


Die heutigen Kognitions- und Neurowissenschaften stellen ein komplexeres Klassifikationsschema des Gedächtnisses auf. Nach dieser neueren Taxonomie unterscheidet man zunächst zwischen kurzfristigem und langfristigem Gedächtnis, wobei letzteres sowohl implizit als auch explizit sein kann. Bei dieser Definition zeigt sich eine der beliebtesten Klassifikationen in der wissenschaftlichen Literatur:[3]




Das Interessanteste bei dieser Klassifizierung der verschiedenen Gedächtnisarten mag sein, dass sie in weiten Teilen die Unterscheidung von Sigmund Freud zwischen Bewusstem und Unbewusstem enthält. Dies entspricht der vorherrschenden Meinung in Bezug auf das individuelle Gedächtnis, wobei es unter den heutigen Wissenschaftlern viele Diskussionen darüber gibt, inwieweit dieses Kriterium (das Bewusstsein) beibehalten werden soll.


Eine viel modernere, aber recht unbekannte Darstellung des individuellen Gedächtnisses wurde aus der Perspektive der Phänomenologie eingebracht. Für Friedrich Jünger ist in seinem Buch Gedächtnis und Erinnerung der grundlegende Unterschied, dass das Gedächtnis mit der Wiederherstellung von objektiven Ereignissen verbunden ist.[4] Zum Beispiel erinnere ich mich, was ich heute Morgen gefrühstückt habe. Andererseits bedeutet Erinnerung, in meinen eigenen subjektiven Raum zurückzukehren und in meine eigene innere Zeit. In diesem Sinn ist die phänomenologische Wahrnehmung der Erinnerung eng mit der Identität verbunden und es ist vergleichbar mit der Wahrnehmung des episodischen und des impliziten Gedächtnisses der heutigen Neurowissenschaften.


Ein einfaches Beispiel kann diese phänomenologische Sicht besser erläutern: Nehmen wir an, jemand wird gebeten, sich daran zu erinnern, was er heute Morgen gefrühstückt hat. Wenn er fähig ist, seine Erinnerung in Worte zu fassen, bildet dieser Akt des objektiven Formulierens eine Gedächtnisleistung. Wenn jemand im Gegenzug gebeten wird, sich daran zu erinnern, wie das Haus aussah, in dem er als Kind aufgewachsen ist – die damit verbundenen Bilder, die Form der Fenster, das Material der Türen, die Innenausstattung, die Menschen, die dorthin gehören –, bedeuten alle diese Bilder für Jünger eine Rückkehr in den eigenen inneren Raum und in die eigene verinnerlichte Zeit, die sich bei einer objektiven Formulierung in Gedächtnis verwandeln. Wenn also die Erinnerung objektiviert wird, verwandelt sie sich in Gedächtnis und ruft eine Form von Entfremdung hervor. Eine Entfremdung, die zum Teil durch die Sprache vollzogen wird. Hier können wir feststellen, dass bei dieser Wahrnehmung die grundlegende Unterscheidung nicht ist, ob das Erinnerte bewusst oder unbewusst ist, sondern ob das Erinnerte objektiv oder subjektiv ist.


Deswegen scheint mir diese phänomenologische Sichtweise so interessant: Die Erinnerung verweist immer auf den subjektiven inneren Ort und die subjektive innere Zeit. Gleichzeit ist diese Subjektivität ein wesentlicher Bestandteil der Identität. Vielleicht hat der Schriftsteller Heinrich Böll deswegen gesagt, dass »Heimat immer noch Sehnsucht nach der Kindheit« ist.


Ich fasse zusammen – bis jetzt habe ich drei Definitionen des individuellen Gedächtnisses vorgestellt: die klassische Definition von Aristoteles, die zeitgenössische Definition der Kognitiven Psychologie und eine Definition aus der Sichtweise der Phänomenologie. Ich sehe diese verschiedenen Definitionen nicht als widersprüchlich in sich, sondern als sich ergänzend. Im folgenden Abschnitt werde ich versuchen zu zeigen, warum sie wichtig sind beim Übergang in das kollektive Gedächtnis.


II. Das kollektive Gedächtnis

Einer der Ansätze zum kollektiven Gedächtnis, der mir am nützlichsten erscheint, ist der Vorschlag des britischen Soziologen Paul Connerton in seinem Buch Wie Gesellschaften erinnern.[5] Connerton schlägt eine grundlegende Unterscheidung zwischen einer historischen Rekonstruktion und einem sozialen Gedächtnis vor. Einerseits bezieht sich die historische Rekonstruktion auf eine Suche nach Objektivität in der Vergangenheit der Menschheit. Diese Suche kann einen hypothetischen oder hermeneutischen Charakter haben, aber sie strebt zwangsläufig Objektivität an, um aus der heutigen Perspektive das zu interpretieren, was durch die Kultur aufgezeichnet wurde. Für Connerton basiert die historische Rekonstruktion wesentlich auf der Hermeneutik des geschriebenen Wortes, auf dem Text als Beweis und der Bewahrung der Vergangenheit durch Bilder.


Auf der anderen Seite arbeitet das soziale Gedächtnis notwendigerweise weder mit Texten noch mit dem, was durch die Kultur in Bildern festgehalten wurde, sondern der Mechanismus des sozialen Gedächtnisses arbeitet implizit durch den Körper. Der zentrale Gedanke von Connerton ist, dass eine Art der Bewahrung von Vergangenheit darin besteht, das zu aktivieren, was im sozialen Gedächtnis gespeichert ist. Unsere motorischen Fähigkeiten und unsere Körperhaltung, zum Beispiel, sind eine Art des Gedächtnisses, auch wenn wir uns nicht genau daran, erinnern, wann und wo wir eine Körperhaltung oder eine motorische Fähigkeit gelernt haben. Wir stellen fest, dass diese Idee dem impliziten Gedächtnis-Begriff der modernen Kognitiven Psychologie sehr ähnlich ist.


Deswegen finden wir in diesem Modell zwei grundverschiedene Arten von kollektivem Gedächtnis. Die eine, die versucht, bleibende Spuren zu hinterlassen; und die andere, die aus der Speicherung von Verhaltensweisen, Gesten und Ritualen besteht. Eine Möglichkeit, diese Unterscheidung zu illustrieren, besteht darin, das Kino mit dem Theater zu vergleichen. Das Kino produziert notwendigerweise eine Aufzeichnung, eine Festschreibung und ein Objekt. Das Theater hingegen ist überwiegend im Fluss und was auf der Bühne passiert, ist eine Zusammenstellung von Geschichten durch die Schauspieler. Natürlich ist diese Unterscheidung allein heuristisch, weil fast alle Festschreibungsformen auf irgendeine Art und Weise die Vergangenheit mit einbeziehen – aber nicht alle Formen des Einbezugs benötigen die Festschreibung.


Das System von Connerton ist viel komplexer als das, was ich bis jetzt vorgestellt habe. Er unterscheidet beispielsweise zwischen Gewohnheiten, körperlichen Fertigkeiten und Ritualen. Interessant ist, dass die Identität sich kurzgefasst nicht nur aus dem Zugang zum Gedächtnis zusammensetzt, das durch die Kultur festgeschrieben wurde, sondern auch durch eine alltägliche Wechselwirkung mit den integrierten Praktiken, die implizit auch die kollektiven Erinnerungen übertragen.


Im folgenden Abschnitt möchte ich diese Konzepte darstellen, und zwar am Beispiel der lateinamerikanischen Identität, des Traumas von Eroberung und Kolonie sowie anhand der Gegenüberstellung von Festschreibung und Einbezug.


III. Der Fall Kolumbien und Lateinamerika

In Kolumbien, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin, bekommen wir in Bezug auf die Eroberung und Kolonisierung Amerikas eine standardisierte Geschichte vermittelt, so wie es das Bildungssystem vorsieht. Dieser Geschichte zufolge hat die spanische Krone intensiv die natürlichen Ressourcen ausgebeutet und das Gedächtnis der indigenen Völker Lateinamerikas ausgelöscht. Dies ist ein sehr komplexer Prozess, aber er ist zu vereinfachen, wenn man die wichtigsten Elemente herausstellt, die verwendet wurden, um ein kollektives Vergessen hervorzurufen. Diese Elemente waren: die Sklaverei, die Religion, die Zensur und die Durchsetzung der Sprache.


III.1. Die Sklaverei

Das Hauptziel der spanischen Krone war es, die Naturressourcen abzubauen. Die angesehensten Ressourcen kamen aus dem Bergbau, besonders Gold, Silber und Edelsteine. Durch die Versklavung der indigenen Bevölkerung waren die notwendigen Arbeitskräfte vorhanden, um dieses Ziel zu erreichen. Mit der Zeit haben die Sklaverei und die neuen Krankheiten, die die Eroberer mitbrachten (beispielsweise die Pocken), dazu geführt, dass die indigene Bevölkerung rasch dezimiert wurde. Aufgrund dieser schnellen Dezimierung der eingeborenen Bevölkerung hat die spanische Krone angefangen, Sklaven von Afrika nach Amerika zu bringen. Man schätzt, dass im Zeitraum vom 15. bis zum 19. Jahrhundert zwischen 11 und 13 Millionen Sklaven transportiert wurden, von denen die meisten aus Westafrika kamen. Als Folge der Sklaverei hat Kolumbien heute drei zentrale ethnische Gruppen: die Weißen (vornehmlich spanischer Herkunft), die indigene Bevölkerung und die Nachfahren der Afrikaner. Seit 1492 bis heute haben sich diese Gruppen untereinander vermischt – das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, der die Eroberung und Kolonisierung von Lateinamerika und Nordamerika voneinander unterscheidet. In Lateinamerika gab es von Anfang an eine Vermischung, während in Nordamerika eine Vertreibung der ursprünglichen Völker stattfand.


Der Fall Kolumbiens kommt mir unter diesem Aspekt besonders interessant vor. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Mexiko oder Peru, wo es große urbane indigene Zentren gab, die eine unerschöpfliche Quelle von Arbeitskräften waren, wurde in Kolumbien, Kuba und in gleichem Maße in Brasilien und den Antillen im großen Stil mit Sklaven gehandelt. Vielleicht sagt William Ospina, ein kolumbianischer Dichter und Schriftsteller, deswegen auf eine karikaturistische, vielleicht synthetische Art, dass »ein Kolumbianer jemand ist, der spricht wie ein Europäer, denkt wie ein Indígena und sich bewegt wie ein Afrikaner.« Ich vermute, dass sich diese Beschreibung auch auf Kubaner, Brasilianer, Venezolaner und Dominikaner anwenden ließe.


III.2. Die Religion

Die Einführung der Religion war eines der effizientesten Mittel des Kolonialismus. Die spanische Krone hat in Lateinamerika ein geschlossenes System etabliert und die einzige Möglichkeit, in diesem eine minimale Würde zu erlangen, bestand darin, zum Katholizismus zu konvertieren. Es ist kein Zufall, dass heutzutage 90 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung sich dieser Religion zugehörig fühlen. Trotzdem unterscheidet sich die Art und Weise, wie der katholische Glaube gelebt wird (zumindest in Kolumbien und Mexiko, die beiden Länder, die ich am besten kenne) im Vergleich zu den Italienern und Spaniern. Die Kolumbianer befolgen die vorgegebenen Rituale der Religion, aber jene werden stets mit Elementen aus der indigenen Kultur vermischt. So hat zum Beispiel der Kult um die Madonna von Guadalupe in Mexiko einen ähnlichen Charakter wie der uralte Kult für die Götter, die die Erde und das Erbe geschützt haben, während die Figur der Madonna Maria eine viel größere Rolle in der Ausübung des Katholizismus in Spanien oder Italien spielt.


Zusammengefasst kann man sagen, dass die katholische Religion ein Mittel der Eroberung und Beherrschung gewesen ist, durch das versucht wurde, eine neue Weltanschauung in das explizite Gedächtnis Lateinamerikas festzuschreiben. Auch wenn es auf dieser expliziten Ebene ein extrem effektives System gewesen ist, wird deutlich, dass es auf der impliziten Ebene nicht erreicht hat, dass alle Elemente der indigenen und afrikanischen Weltanschauung gelöscht wurden. Das folgende Video verdeutlicht dies: Youtube-Video. Es zeigt ein Dankbarkeitsritual für den Heiligen Lazarus, der die spanische Version von Babalú Ayé ist, die Gottheit in der kubanischen Religion, die die Krankheiten heilt und für Gesundheit sorgt.


III.3 Die Zensur

Die Zensur war das dritte typische Element der Kolonie. Im Archivo General de Indias (indianischen Zentralarchiv) der Stadt Sevilla gibt es vollständige Akten, die die Kontrolle der spanischen Krone auf die amerikanischen und philippinischen Kolonien dokumentieren. Dort ist zu sehen, dass jedes einzelne Buch, das nach Übersee versandt wurde, vorher durch die strenge Kontrolle der Inquisition musste. So waren zum Beispiel alle Werke von Miguel de Cervantes in Amerika verboten, wobei man auch weiß, dass es ein Jahr nach der Veröffentlichung des Don Quijote schon geschmuggelte Exemplare in Cartagena (Kolumbien) gab. Auf diese Weise sicherte sich die spanische Krone das Monopol über die Kontrolle der offiziellen Version der Religion und in gewissem Maße konnte sie so die Festschreibung einer einzigen Version der Geschichte im expliziten kollektiven Gedächtnis garantieren.


III.4. Die Sprache

Ein weiteres grundlegendes Element während der Kolonisierung war das Auferlegen der spanischen Sprache als Amtssprache für die unterworfenen Völker. Genauso ist auch Portugal mit seinen Kolonien in Amerika und Asien vorgegangen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass alle indigenen Sprachen verschwunden wären. Heutzutage gibt es noch schätzungsweise zwölf Millionen Quechua-Sprecher in Peru, Bolivien, Süd-Kolumbien und Nord-Argentinien. Sprachen wie Nahuatl (Sprache der Atzteken), Quiché und Zapoteco haben jeweils circa drei Millionen Sprecher, es finden sich sechs Millionen Guaraní-Sprecher in Paraguay sowie rund zwei Millionen Aimara-Sprecher in Bolivien und Peru. Es gibt auch Sprachen, die noch von circa 400.000 Sprechern gesprochen werden, wie beispielsweise die Sprache der Mapuche in Chile oder das Wuayuu, das in Kolumbien und Venezuela von ungefähr 140.000 Menschen gesprochen wird.


Für einige Wissenschaftler schließt sich mit der Auferlegung der Sprache der Kreis, der als perfektes Verbrechen beschrieben wird. Während der Eroberung und der Kolonie wurden den indigenen Völker und afrikanischen Sklaven durch die Imposition der Sprache – und der damit erfolgten expliziten Neuschreiben der kollektiven Geschichte – die Möglichkeit genommen, den Aggressor anzuklagen.


Im folgenden Abschnitt gehe ich auf die Identität und den Vergleich von Einschreiben in der Geschichte und Einbezug in das Gedächtnis ein.


IV. Identität

In seinem Buch Das Labyrinth der Einsamkeit entwirft Paz die Idee, dass die lateinamerikanische Identität sich durch das Trauma der Eroberung und der Kolonialisierung konstituiert hat. In seinem Buch beschreibt er ausführlich die Entstehung dieses Traumas am Beispiel Mexikos.


Wie ich schon zu Beginn erwähnte, ist die Identität eng mit dem Gedächtnis verbunden. Gleichzeitig scheint das explizite Gedächtnis – sowohl das individuelle als das kollektive – mit der Sprache zusammenzuhängen, weil sich mittels der Sprache Erinnerungen ausdrücken lassen. Bisher habe ich die explizite Geschichte Lateinamerikas während der Kolonialzeit und der Eroberung und ihre vier grundlegende Mechanismen (Sklaverei, Religion, Zensur und Sprache) betrachtet. Diese vier Mechanismen sind nicht unbedingt objektive Faktoren, sondern dienen dazu, die kollektive Geschichte zu illustrieren, die in verschiedene Texte und akademische Tendenzen eingeschrieben ist.


Nun möchte ich kurz analysieren, wie sich diese explizite Geschichte auf die kollektive Identität auswirkt. Man kann Folgendes beobachten: Wenn wir Erinnerungen mittels Sprache ausdrücken, benutzen wir ein Medium, welches uns erlaubt, Erinnerungen zu teilen. Aber gleichzeitig birgt Sprache die Gefahr, die Erinnerungen zu objektivieren. Darauf habe ich schon hingewiesen, als ich auf den Unterschied zwischen Gedächtnis und Erinnerung aus Sicht der Phänomenologie eingegangen bin. Vielleicht nehmen deswegen einige Richtungen wie die Lacan’sche Psychoanalyse an, dass die Sprache die grundlegende Institution ist – so wie ein Gefängnis. Deswegen wird die psychologische Funktion, die die Sprache bei der Konstituierung des Subjekts und seiner Identität erfüllt, innerhalb der psychoanalytischen Theorie als das »Große Andere« bezeichnet.[6]


Die Sprache, die wir gebrauchen, um uns zu verständigen, ist uns von unserer Kultur und unseren Vorfahren überliefert. Zwar erneuern wir ständig die Sprache, aber gleichzeitig haben wir sie von unseren Eltern und von früheren Generationen geerbt. Wenn die Wörter mit einer objektiven Absicht genutzt werden, geht die Subjektivität verloren. Nicht so ist es in der Poesie, bei Versprechern, bei Witzen, oder generell bei »Unfällen« in der Sprache, in der das Subjektive zu Tage tritt. Welche Rolle spielt also das Gedächtnis bei der Herausbildung der Identität? Für Freud ist das Gedächtnis ein Leiden: Innerhalb des Freudianischen Systems hat das Gedächtnis mehr Ähnlichkeit mit einer Krankheit als mit einer Tugend. Dies steht im Einklang mit einigen Interpretationen innerhalb des aristotelischen Konzeptes der Eudämonie, das mit der Vorstellung des seelischen Wohlbefindens einhergeht. Für die Griechen war seelisches Wohlbefinden die Abwesenheit von Gedächtnis, denn wer die Erinnerung verloren hatte, war frei von den Traumata seiner Vergangenheit. Deswegen strebt die Eudämonie das Vergessen an, um uns von dem traumatischen Ereignis zu befreien, welches uns am Anfang unvergesslich erschien.


Mit den Begriffen, die ich bisher diskutiert habe, möchte ich nun auf die zentrale These meines Vortrags zu sprechen kommen. Sie lautet folgendermaßen: Bei der Entstehung des »Labyrinths der Identität« bildet sich ein Knotenpunkt, der mir unauflösbar erscheint: Wir wünschen uns, das Traumatische zu vergessen, um uns an die Eudämonie, an den Zustand seelischen Wohlbefindens anzunähern, aber das Trauma kehrt auf dem Weg des Unbewussten immer wieder zurück. Im Fall der kollektiven Erinnerung verhält es sich so, dass das Trauma im impliziten, verkörperten Gedächtnis zurückkehrt. Verkörpert in motorischen Fähigkeiten, in Ritualen und in Mythen, wie es Connerton vorschlägt. Wenn ich von einer unbewussten Wiederkehr rede, meine ich eine Wiederkehr der Erinnerung, die nicht über die Sprache artikuliert wird. Eine Wiederkehr der traumatischen Erinnerung, die sich in den Körper eingeschrieben hat. Diese Wiederkehr der Erinnerung durch einen unbewussten Mechanismus, der sich in den Körper einschreibt, nennt man Symptom. Hingegen nennt man die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, Gefühle und Erinnerungen über die Sprache zu artikulieren, Alexithymie.


Betrachtet man dies aus der Perspektive der Identitätsbildung, so stellt man fest, dass dadurch eine Aporie erzeugt wird, ein unlösbares Problem. Denn die Eudämonie, das Wohlbefinden erfordert, dass man das Trauma vergisst. Damit aber die Identität innerhalb der Zeitlichkeit fortbestehen kann, ist es andererseits notwendig, dass man sich an das traumatische Ereignis erinnert. Es ist schwierig, eine Aporie zu behaupten, ohne den Versuch zu machen, einen Ausweg zu finden. Auf der individuellen Ebene liegt eine mögliche Lösung darin, das in den Körper eingeschriebene Trauma auf die Ebene des Symbolischen zu bringen. Dies ist in der Psychoanalyse unter dem Begriff der Katharsis bekannt. Aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse erlaubt die Katharsis, das Trauma vom Körper in die Sprache zu transportieren. Dies ist keine endgültige Lösung und auch keine universale, denn die Sprache ist, wie ich schon erläutert habe, auch eine Institution, die objektiviert und per definitionem nur eine teilweise Übersetzung der subjektiven Bedeutung des Traumas erlaubt. Daher kommt die Notwendigkeit, die Inszenierung des Traumas ständig zu wiederholen und auf verschiedene Weise zum Trauma zurückzukehren. In der Psychoanalyse wird dies als neurotische Persönlichkeitsstruktur bezeichnet.


Auf der kollektiven Ebene jedoch bringt die unbewusste oder implizite Rückkehr der traumatischen Erinnerung nicht unbedingt ein Symptom hervor. Wie das individuelle Gedächtnis muss auch das kollektive Gedächtnis ständig zum traumatischen Ereignis der Vergangenheit zurückkehren. Anscheinend gibt es für die eroberten und kolonialisierten Völker die Möglichkeit der Katharsis nicht, und zwar aus zwei Gründen: Weil Geschichtsschreibung meistens nicht von einer Gruppe ausgeht und weil in vielen Fällen deren ursprüngliche Sprache verschwunden ist. Es gibt also so etwas wie eine kulturelle Alexithymie. Es ist die Einzelperson, der Historiker, die Erzählerin, die Akademikerin, der Künstler etc. mit seinen/ihren objektiven und subjektiven Entscheidungen, der/die die Möglichkeit hat, am Prozess der Geschichtsschreibung mitzuwirken. Aber dies kommt in erster Linie der Einzelperson zugute und begünstigt nicht unbedingt den Prozess der kollektiven Identitätskonstruktion.


Die zweite These, die ich hier vorstellen will, geht davon aus, dass es auf der kollektiven Ebene möglicherweise einen alternativen Prozess gibt, um Erinnerung wiederherzustellen. Dieser Prozess ist nicht eins zu eins vergleichbar mit der individuellen Katharsis. Das heißt, es gibt vielleicht einen kollektiven Prozess, der die Erinnerung von der traumatischen auf die symbolische Ebene transportiert. Die Hypothese ist, dass man verloren gegangene Erinnerungen wiedererlangen kann, indem man solche Erinnerungen wieder herstellt, die nicht ausdrücklich in der Geschichtsschreibung festgehalten sind, die aber implizit existieren, und zwar in den Ritualen und in den körperlichen Handlungen.


Um zum Ende zu kommen und diese Idee zu veranschaulichen, möchte ich ein Beispiel aus den Massenmedien anführen. Beim Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 war der Spieler Zinadine Zidane auf dem Höhepunkt seiner Karriere. In dem Spiel, das vielleicht das wichtigste seines Lebens ist, passiert ein Vorfall mit einem Spieler der gegnerischen Mannschaft. Hiernach verliert Frankreich das Endspiel gegen Italien und Zidane zieht sich für immer aus dem professionellen Fußball zurück. Folgendes war auf den Fernsehbildschirmen zu sehen: Youtube-Video.


Zidane ist Sohn von algerischen Immigranten in Frankreich. Er wurde in Marseille geboren und wuchs in den Vororten auf. Dort, auf der Straße, hat er Fußball spielen gelernt. Eine der treffendsten Interpretationen, die ich zu diesem Vorfall gefunden habe, sieht in diesem Schlag eine Rückkehr Zidanes zu seiner Identität. Es ist nicht ein Vorfall, dem notwendigerweise ein totaler Kontrollverlust vorhergehen muss. Im Gegenteil, es scheint fast vorher ausgedacht. Auf der einen Seite wird dieser Vorfall als Ablehnung der Entfremdung, die das externe System der Medien produziert, und als eine Rückkehr zu seinem Status als ganz normale Person angesehen, die in Marseille geboren wurde und in den Vororten aufwuchs. Betrachtet man diesen körperlichen Vorfall, scheint es mir wichtig hervorzuheben, dass der Schlag mit dem Kopf auf die Brust des Spielers aus der Gegenmannschaft erfolgt. Das ist kein Schlag, der den Gegenspieler zwangsläufig verletzt, sondern er zielt symbolisch auf das Herz dessen, was der Gegenspieler verkörpert. In meiner Interpretation ist dieser Schlag gegen das Herz des Auslösers der Entfremdung, auf die FIFA und die elitären weltweiten Medien gerichtet, die ihm seine Identität aberkannt haben.[7]


In einem Interview, das Zidane drei Jahre später gegeben hat, sagt er, dass er sich besonders bei den Kindern und Jugendlichen entschuldigen möchte, die diesen Vorfall gesehen haben. Es müsse schwierig sein für einen Lehrer, in einer Schule friedliche Taten und Einigkeit zu fördern, wenn die Kinder sein Beispiel im Fernsehen gesehen haben. Trotzdem bleibt es dabei, dass er sich weder beim Gegenspieler noch bei der FIFA oder bei den Medien entschuldige. So betont er, dass das eine Tat war, die – wenn er um Entschuldigung bitten würde – die Rückkehr zu seiner Identität, die er gerade wiedererlangt hat, erneut in Frage stellt.


Einerseits ist das eine Ablehnung des entfremdenden Potentials der aufgeschriebenen kollektiven Geschichte durch die Medien. Andererseits ist es eine Rückkehr zur Identität, die sich aus Gedächtnisritualen, Körperbewegungen und Gewohnheiten aus den Vororten von Marseille zusammensetzt. Wenn es sich um eine individuelle oder kollektive Wiedergutmachung handelt, hängt die Anerkennung und der Erfolg im großen Maße von dem Blickwinkel des Betrachters ab, die diesen Vorfall gesehen haben. Meine Hoffnung ist, dass es ein kollektives Phänomen gewesen ist.




[1] Octavio Paz: El laberinto de la soledad. Madrid 2000.

[2] I would like to thank Silvia Caspers for valuable translation advice and corrections to an early Spanish version of the manuspcript.

[3] Daniel L. Schacter, Endel Tulving (eds.): Memory Systems 1994. Cambridge, MA 1994.

[4] Siehe Friedrich Georg Jünger: Gedächtnis und Erinnerung. Frankfurt am Main 1957.

[5] Paul Connerton: How Societies Remember. Cambridge 1989. Um die Phänomene zu verstehen, die mit der Identität zusammenhängen, sind andere Ansätze wie der des kollektiven Unbewussten von Jung für mich nicht sehr hilfreich, deswegen werde ich nur die Ausführungen von Connerton vorstellen.

[6] Siehe Jacques Lacan: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Paris 1973.

[7] Siehe Yasmin Jiwani: »Sports as a Civilizing Mission: Zinedine Zidane and the Infamous Head-butt«, in: TOPIA: Canadian Journal of Cultural Studies, Nr. 19 (2008), S. 11–33; David Rowe: »Stages of the Global: Media, Sport, Racialization and the Last Temptation of Zinedine Zidane«, in: International Review for the Sociology of Sport, Bd. 45, Nr. 3 (2010), S. 355–371.




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