post theater

Synchrone Performances am 30. September 2010


Ende September 2010 fanden in Stuttgart zwei Performances statt, die dieser Aufsatz zueinander in Beziehung setzen will. Der Begriff »Performance« wird im Deutschen anders benutzt als im Englischen. Im Deutschen bedeutet er meist performance art; im Englischen bedeutet er Aufführung, Darstellung, Präsentation, Leistung und vieles mehr.


Im Württembergischen Kunstverein präsentierte die Akademie Schloss Solitude die Performance-Reihe zu dem Thema »Design of the In/Human«. Diese Reihe beinhaltete dabei verschiedene Ansätze der darstellenden und bildenden Künste – von Künstlern mit unterschiedlichen künstlerischen Ausbildungen und Werdegängen. Diese Veranstaltungsreihe war leider oft nicht sehr gut besucht. Für das Theaterpublikum roch der Begriff »Performance«, den die Reihe versprach, nach sich mit Farbe beschmierenden Künstlern, die sich auf Leinwänden wälzen. Und für das Kunstpublikum waren die Künstler, vor allem aus dem Theaterbereich, völlig fremd, zumal diese dann keine Referenzen aus der Welt der bildenden Kunst hatten. Auch waren die Ansätze der Arbeiten zu verschieden, um als Reihe einen Zyklus zu bilden. Natürlich gab es zwischen einzelnen Arbeiten Parallelen oder Überschneidungen in den Arbeitsweisen – an einigen Arbeiten durchaus gelungene dazu. Aber als Ganzes gesehen, hätten die Unterschiede zwischen einem Theater-Solo auf einer kleinen Theaterbühne und die Endurance Performance im Kassenraum nicht größer sein können. Ich merke dieses nicht als Kritik an, sondern als Versuch, den mäßigen Zuspruch bei Medien und Zuschauern zu erklären. Doch der wahrscheinlich wichtigste Grund, warum wenige Zuschauer sich in die wunderbaren Hallen des Kunstvereines verirrten, war, dass eine andere Art der Performance ganz in der Nähe stattfand – zumindest genau dann, als wir – die künstlerische Leitung von post theater, bestehend aus Hiroko Tanahashi und mir – unsere Performance Express Fight Club präsentierten.


Wenige hundert Meter von uns demonstrierten die Gegner des Bahnprojektes Stuttgart 21 im Schlosspark, und die Polizei demonstrierte große Gewalt. Es fand die legendäre Demonstration vom 30. September 2010 statt, bei der es zahlreiche Verletzte gab, wohl aufgrund der Brutalität der Polizei. Wie viele Personen unseres Zielpublikums waren als Demonstranten im Park statt in unserer Performance? Und wie viele mögliche Zuschauer waren aufgrund der Demonstrationen – und den damit verbundenen Verkehrsproblemen und Parkplatznöten – nicht zu uns gefahren? Und wie viele wollten diesen besonderen Moment in den Medien oder am Telefon mit Zaungästen oder Beteiligten verfolgen, statt sich eine obskure Performance-Reihe anzuschauen? Wieder will ich etwas nicht kritisieren – weder Demonstranten noch Voyeure noch berechtigt Besorgte oder Betroffene der Demonstration.


Als Karlheinz Stockhausen nach dem 11. September 2001 über diesen Tag von einer großen »Performance« sprach, erlitt er starken Gegenwind für seine Äußerung – in Deutschland. Denn hier wird eben bei diesem Begriff an eine bestimmte Art der künstlerischen Äußerung gedacht. Vielleicht hat Stockhausen diese auch gemeint. Im Englischen wäre der Begriff der performance kein Problem gewesen – denn auch Mitarbeiter und Aktien performen in diesem Sprachraum (und mittlerweile auch bei uns). Nach Richard Schechner, dem Erfinder der Performance Studies, ist jede öffentliche Aktion, die im Bewusstsein der Wahrnehmung anderer geschieht, wie auch jeder geübte und/oder reflektiert auf Wirkung angelegte öffentliche Auftritt eine performance. Die Polizei hat im Schlosspark eine Performance gemacht. Die Demonstranten haben sehr viele verschiedene Performances dargeboten – für sich, für die Medien, für die Polizei als Vertreterin des Staates, die in einer bestimmten Frage kritisiert wurde.


Express Fight Club fand parallel statt. Bei diesem Stück darstellender Kunst handelt es sich technisch gesehen um eine lineare Videoinstallation mit drei Videoprojektionen im Raum, von denen zwei vorproduziertes Material synchron einspielen und eine das Material einer Live-Kamera zeigt. Darüber hinaus gibt es eine Surround-Sound-Einspielung und für manche Zuschauer noch drahtlose Kopfhörer, deren Spracheinspielungen synchron vom selben Datenträger abspielen. Angekündigt ist aber eine »Performance mit 30 anonymen lokalen Darstellern«. Dass die Zuschauer selbst diese Darsteller »spielen«, wird nicht vorher verraten und ergibt sich erst nach Beginn der Vorstellung. Die Behauptung, dass dieses Erlebnis Theater ist, macht diese Installation zum Theater. Spielen und Zuschauen – die Fundamente des Theateraktes – sind gegeben, auch wenn Spieler und Zuschauer zusammenfallen. Peter Brooks Definition von Theater, »A spielt B vor C«, stimmt – auch wenn A, B und C zusammenfallen.


Das Ausgangsmaterial von Express Fight Club ist Chuck Palahniuks Roman Fight Club, wie auch die gleichnamige Verfilmung von David Fincher. Zentrales Motiv ist die Suche nach einer Alternative zum entfremdenden Alltag als »Sklave des Dienstleistungskapitalismus« – die Suche nach Sinnstiftung, Gemeinschaft, Identifikation, die die Arbeit in Großraumbüros nicht mehr bieten kann. Anders als im Roman und im Film ist bei unserer Performance der Geheimbund »Fight Club« keine Männerdomäne und kein Prügelverein. Statt körperlicher Erfahrung geht es um eine ästhetische, intellektuelle.


Unsere Performance ist autoritär. Zunächst gibt es einen »Einweiser«, der den Zuschauern Nummern auf Zetteln verteilt und sie eindringlich bittet, bestimmte Regeln zu verfolgen. Dann führt er die Zuschauer in den eigentlichen »Theaterraum«, in dem dann ein strenger Mann vom Video den Zuschauern Befehle erteilt. Jeder bekommt eine ihm zugedachte Aufgabe, jeder wird über die verteilte Nummer angesprochen. Anfänglich handelt es um einfache Handlungsanweisungen, später werden diese immer komplexer. Es entstehen auf diese Weise Gruppenchoreografien und chorisches Karaoke-Sprechen von Texten aus Fight Club. Warum machen alle (in fast hundert Veranstaltungen in einem dutzend Städten, also bei nunmehr 3.000 Zuschauern weltweit) alles mit?




Die Performance ist kein Milgram-Versuch. Es war nie unser Anliegen, die Autoritätsgläubigkeit des Publikums zu testen. Stattdessen war es uns ein Anliegen, den Bühnenraum und den Zuschauerraum zu fusionieren, um den Konflikt der Charaktere auf den der Zuschauer zu übertragen. Gibt es wirklich einen Raum, der freier ist als unser Arbeitsalltag und in dem wir mehr »wir selbst« sind? Ist »Performance« ein Mittel der »Selbstverwirklichung«? Wie viel Freiheit gibt es beim Befolgen von strengen Regeln? Wie viel Freiheit kann ich mir einreden beim Interpretieren von Anweisungen? Das Unbequeme des eigenen Opportunismus ist die größte Provokation von Express Fight Club. Die Zuschauer sind bass erstaunt, dass die Performance immer funktioniert, dass sich alle diese Provokation gefallen lassen und mitmachen. Wenn gefragt, warum sie denn mitmachen, antworten fast alle, dass sie dies tun, um das Kunstwerk nicht zu zerstören. Sie sind solidarisch mit den Künstlern – mit uns. Alle sind sich aber der Brisanz des Autoritären durchaus bewusst. Man spielt also »Mitspielen«. Neben der Solidarität ist es die Neugierde, wohin dieser »Club« führt, die ihn möglich macht – und auch der Wille, sich Gedanken über das Thema zu machen.


Es gibt noch viele andere Interpretationsebenen und Anliegen und Ideen rund um den komplexen Abend Express Fight Club. Was aber sagt unsere Erfahrung über die parallelen Performances im Mittleren Schlossgarten? Wie viele spielten dort das »Mitspielen«? Wie viele Zuschauer wurden, von sich selbst nicht geplant, zu Performern? Ist eine Demonstration unter Umständen auch eine »Choreografiemaschine«, die bestimmte Handlungsmuster und Bewegungsfolgen auch bei Laien ermöglicht, auslöst, erleichtert? Begriffe schaffen eine Erwartungshaltung. Die Präperformance, der semiotische Prozess, der vor dem erwarteten eigentlichen physischen Ereignis beginnt, ist entscheidend. Wäre eine Schlägerei im Schlossgarten angekündigt worden, hätte diese nicht stattgefunden. Wäre ein »Mitmachtheaterstück« im Kunstverein angekündigt worden, hätte Express Fight Club nicht stattgefunden. Wäre eine »Open-Air-Theaterperformance über Maulwürfe« angepriesen worden, wären eventuell andere Menschen zur Demo gegangen – oder sie wären andere Menschen gewesen –, da sie mit einer anderen Erwartungshaltung gekommen wären.


Der Verlauf der Dinge ergibt sich also aus dem richtigen Einsatz von Begrifflichkeiten und Räumen. Die Performance-Reihe hätte sich größerer Beliebtheit erfreut, wenn sie anders geheißen hätte. Die Definitionsmacht des Galerieraumes hätte manche der performances in ein anderes Licht gerückt. Für Express Fight Club wäre ein Theaterraum vielleicht glaubwürdiger, wenn man die »30 anonymen lokalen Darsteller« verspricht als ein Kunstraum. Für andere Veranstaltungen der Reihe mag der Galerieraum genau richtig gewesen sein – vor allem für die Performances, die der performance art entsprangen, von bildenden Künstlern gemacht, die auch mit Theaterräumen keine Erfahrung und Berührungspunkte gehabt haben. Bei aller Kritik – im Nachhinein war zwar die Konkurrenzveranstaltung Großdemo problematisch, da die für Express Fight Club nötige Anzahl von 30 Zuschauern nicht immer zusammen kam. Für die, die es dennoch in die »Show« geschafft hatten, war der gesellschaftliche, »historische« Kontext der Park-Demo vielleicht besonders einprägsam, vielleicht hat er die Wahrnehmung auf die künstlerische Arbeit im Kunstverein anders räsonieren lassen. Wir werden es nie erfahren. Leider ist nicht anzunehmen, dass die Zuschauer unseres Stückes im Anschluss auf der Demonstration waren – eine Spekulation, ob ihr Verhalten dort ein anderes gewesen wäre als ohne den Besuch von Express Fight Club, bleibt daher müßig.


Bei allem Desaströsen des für die Zuschauer/Demonstranten unerwartet gewalttätigen »Fight Clubs« im Schlossgarten, gerade die Eskalation machte die Demo zum wichtigen Meilenstein im Konflikt um den Bahnhofsumbau – ironischerweise eventuell zu einem Teilerfolg für die Gegener des Bahnhofsprojektes. Insbesondere die Frage, wie vorbereitet, wie erwartet die Gewalt bei der Polizei war, wurde zum Nachteil für die CDU und den Ministerpräsidenten.


Die Hoheit über das Unerwartete? Wer hat sie? Wer besitzt den Überraschungsmoment? Wie kalkulierbar ist er? Express Fight Club ist ein Überraschungserfolg für post theater. Hiroko Tanahashi und ich haben nie damit gerechnet, dass dieses Experiment über ein Experiment hinaus geht und eine in vielen Variationen und Sprachen immer wieder neu erarbeitete »Performance-Reihe« wurde, die uns in diverse Länder und Kontexte führte. Den Kontext am 30. September – einerseits im fragwürdig definierten Veranstaltungsreihen-Kontext, andererseits in einem Kunstverein und wiederum andererseits in der Schlacht vom 30. September – hatten wir so nicht geplant. Besonders funktioniert hat er für uns damals nicht – mit diesem Essay retrospektiv aber schon.



Express Fight Club from post theater on Vimeo.


Max Schumacher, Solitude, Juli 2011




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